Wikimedia Deutschland/Offener Sonntag/Satzungssafari

Satzungssafari edit

Das war der Titel eines Impulsreferats im Barcamp des Offenen Sonntags bei Wikimedia Deutschland, das am 26. Mai 2013 stattfand. Es gab eine Präsentation dazu, die aber nicht selbsterklärend ist. Darum hier eine etwas andere Textversion.

Thema
Die Satzung von Wikimedia Deutschland, genauer gesagt ausschließlich die Abschnitte über Ziele und Aufgaben des Vereins (Präambel sowie §2). Bei einer kurzen Lesung wurden fünf Begriffe im Text herausgestellt und ansatzweise über sie diskutiert.
Format
Impulsreferat (20 Minuten) + Diskussion
Ansatz
Auch Schlüsselbegriffe sind mitunter weit interpretierbar.
Ziel
Anhand der fünf Beispielbegriffe ein Gefühl dafür fördern, wie offen, weitreichend und spannend auch Grundlagen der Vereinsaufgaben gedacht werden können, die als allgemein eindeutig definiert gelten.
Ablauf
Zuerst wurden die kompletten Textpassagen vorgestellt, was hier im Dokument nicht gemacht wird. Stattdessen geht es gleich in eine versuchte Kurzübersicht zum Kern der Satzung, die so im Referat vorgestellt wurde. Im Anschluss folgen dei fünf herausgestellten Begriffe mit kurzen Interpretationen, die dann am Offenen Sonntag andiskutiert wurden.

Der Satzungskern zu Zielen und Aufgaben (vereinfacht) edit

„Wie kann Wissen befreit und dauerhaft zugängig gemacht werden?“

Ziel
  • Bildung stärken und mehr Chancengleichheit beim Zugang zu Wissen
Weg
  • Erstellung, Sammlung, Verbreitung freier Inhalte fördern
  • Bewusstsein um gesell./philosoph. Fragen fördern

Mittel:

  • Inhalte in + Betrieb von WM-Projekten fördern
  • Informationen und Öffentlichkeitsarbeit
  • soz./kult./rechtl./wiss. Fragen zu freien Inhalten klären

5 Schlüsselbegriffe edit

An dieser Stelle noch einmal die Anmerkung, dass es viele verschiedene Aspekte in der Vereinssatzung gibt, auf die sich Schwerpunkte legen lassen. Die Auswahl der folgenden fünf ist rein subjektiv und folgt einzig der Idee, möglichst interessant auslegbare Passagen zu beleuchten.

Menschenrecht edit

Aus der Präambel der Satzung:

„Wissen ist seit jeher ein wesentlicher Faktor für die soziale, kulturelle und wissenschaftliche Entwicklung der Menschheit, und spätestens seitdem wir uns auf dem Weg in eine globale Wissensgesellschaft befinden, wird es auch für den Einzelnen immer bedeutender. Vor diesem Hintergrund wird der freie Zugang zu Wissen zu einem Menschenrecht.“

Interpretation
Das bekannteste und gewichtigste Dokument zum Thema Menschenrechte ist sicherlich die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, von den Vereinten Nationen verfasst. Tatsächlich ist der freie Zugang zu Bildung in Form des Artikels 26 ein fester Bestandteil dieser Erklärung. Allerdings ist die Definition des Freien Wissens und des notwendigen Zugangs dazu in der Vereinssatzung erheblich weitreichender als die nur ähnlich klingende Passage bei den Vereinten Nationen.
Schon die Anlehnung an die Erklärung der Menschenrechte ist ein deutliches Statement. Es gibt kaum bedeutungstragendere Dokumente, die international bekannt und anerkannt sind. Zu ihren Vorläufern zählt Wikipedia beispielsweise die Bill of Rights (1689), die Unabhängigkeitserklärung der USA (1776) oder die Erklärung der Bürger- und Menschenrechte aus der Französischen Revolution.
Fragestellung
In der Satzung ist zwar definiert, was Freies Wissen im Vereinssinn bedeutet. Es ist auch definiert, dass nach diesem Verständnis der Zugang zu Freiem Wissen ein Menschenrecht sein soll. Aber wo ist das international anerkannte Dokument? Gibt es eine allgemeine Erklärung für Freies Wissen als Menschenrecht? Zumindest innerhalb der Wikimedia-Bewegung, als Startpunkt? Warum eigentlich nicht?
Perspektive
Es geht natürlich nicht darum, vermessen mit dem Begriff der Menschenrechte zu hantieren. Die Formulierung in der Satzung ist zweifellos mutig, aber sie ist klar und steht in bester Tradition: Wo aus Definitionen Forderungen nach Allgemeingültigkeit werden, gewinnen Positionen an Gewicht. Menschen schreiben Manifeste, mit denen sie andere Menschen emotional überzeugen und ihnen Dringlichkeit demonstrieren wollen. Mit einer offiziellen Erklärung können sich Unterstützer identifizieren, mit einer Definition nicht. Definitionen werden „lediglich“ angewendet. Sie sind neutral. Welche Wirkung könnte so etwas für die Forderung nach Freiem Wissen als Menschenrecht haben?

Freies Wissen edit

Aus der Präambel der Satzung:

„Ziel von Wikimedia Deutschland - Gesellschaft zur Förderung Freien Wissens ist es, Antworten auf die Frage zu finden, wie das Wissen endgültig befreit und damit allen Menschen dauerhaft zugänglich gemacht werden kann.“

Interpretation
Der Begriff des Freien Wissens ist zentral für die Satzung. Auch wenn es offensichtlich sein mag, ist es wichtig zu betonen, dass nicht von Wissen, sondern von Freiem Wissen gesprochen wird. Der Unterschied wird bei einem Vergleich deutlich: Wikimedia ist gemeinnützig, wie viele andere Organisationen auch. Brot für die Welt, zum Beispiel, macht es sich zum Ziel, Hunger zu bekämpfen. Ärzte ohne Grenzen bekämpfen Krankheit. In beiden Fällen steht im Mittelpunkt, einen Mangel zu formulieren und ihn zu beseitigen. In beiden Fällen brauchen die zentralen Begriffe aber jeweils einen Gegenbegriff, um (erkenntnistheoretisch und praktisch) verstanden zu werden. Um Hunger verstehen zu können, muss man wissen, was satt sein bedeutet – und umgekehrt. Um Gesundheit als Konzept verstehen zu können, muss man verstehen, was es bedeutet, krank zu sein. Gesundheit ist Abwesenheit von Krankheit, ihr Gegenteil. Sättigung ist Abwesenheit von Hunger. Und Freies Wissen?
Freies Wissen ist das Gegenteil von unfreiem Wissen. Nur, wer kann eigentlich etwas mit dem Begriff des unfreien Wissens anfangen?
Fragestellung
Kann man eigentlich verstehen, was Freies Wissen im definierten Sinn von frei zugänglichem, frei bearbeitbarem und frei weiterverwendbarem Wissen ist, ohne zunächst ein Bewusstsein dafür zu haben, dass alles andere Wissen unfrei ist? Wer kennt nicht das (im Satzungssinn) schiefe Argument: „Ist doch alles kostenlos im Internet zu finden?!“ Das ist nicht, was mit Freiem Wissen gemeint ist. Ist es nicht besser, es über den Mangel zu erklären, statt über die Vorzüge der freien Verwendung und Bearbeitbarkeit zu sprechen?
Perspektive
Die Vorteile des Freien Wissen lassen sich sehr plastisch am Beispiel Wikipedia oder der anderen Wikimedia-Projekte erklären. Das ist ein Weg. Ein anderer kann sein, über Umgebungen oder Themen zu sprechen, in denen das Wiki-Prinzip und die freie Verwendung von Inhalten nicht möglich ist. Lehrer können beispielsweise nicht unbegrenzt Kopien ziehen oder Lehrmaterial frei kombinieren. Eigentlich darf überhaupt niemand 99 Prozent aller Bilder aus dem Netz auch nur über Soziale Netzwerke teilen. Ist das noch zeitgemäß oder praktisch? Welche Chance bietet der Mangel, der mit unfreiem Wissen verbunden ist, in der Verbreitung freier Inhalte?

Antworten auf Fragen finden edit

Aus der Präambel, gleiche Stelle wie oben (nur andere Hervorhebung):

Ziel von Wikimedia Deutschland - Gesellschaft zur Förderung Freien Wissens ist es, Antworten auf die Frage zu finden, wie das Wissen endgültig befreit und damit allen Menschen dauerhaft zugänglich gemacht werden kann.“

Interpretation
Eine besondere Formulierung. An der markierten Stelle steht nicht, dass „geholfen“ werden soll, das Wissen zu befreien, oder dass es „unterstützt“ werden soll, „vorangebracht“ oder Ähnliches. Stattdessen lautet die Formulierung, Antworten zu finden. Eine Antwort ist keine Aktion, jedenfalls nicht jenseits sprachwissenschaftlicher Aspekte.
Ein Beispiel: Wenn man als Problem formuliert, dass ein Haus gebaut werden muss, und die Frage lautet, wie das geht, dann kann eine Reihe von Antworten gefunden werden: Um ein Haus zu bauen, braucht es einen Bauplan, außerdem ein Grundstück, auf dem das Haus stehen kann, bestimmtes Material und sicher auch bestimmte Fachkenntnisse, …von Geld ganz zu schweigen. Der Punkt ist, wenn ich all das und mehr als Antwort auf die Frage erhalte oder mir selbst erarbeite, dann steht noch lange kein Haus. Wissen ist notwendig, aber das Haus muss trotzdem noch gebaut werden.
Antworten zu finden, wie Wissen befreit werden kann, heißt also noch lange nicht, dass damit Wissen befreit ist oder wird. Es ist eine notwendige, keine hinreichende Bedingung.
Fragestellung
Wer befreit welches Wissen eigentlich praktisch? Wie sieht ein effektives Verhältnis zwischen Grundlagenbildung, Konzepten und Aufklärung einerseits, und Inhalteerstellung oder –befreiung andererseits aus? Lässt sich das überhaupt so pauschal trennen? Und falls ja, wer kann was am besten?
Perspektive
Die Erstellung und Bearbeitung freier Inhalte wird in den Wikimedia-Projekten fast ausschließlich von Ehrenamtlichen geleistet. Theoretisch käme eine ganze Reihe von anderen Gruppen ebenfalls dafür in Frage: Institutionen, systematisch engagierte Arbeitnehmer, Freelancer, hauptamtliche Wikimedia-Mitarbeiter, Partnerorganisationen oder vielleicht ganz andere Gruppen. Umgekehrt, und damit vervollständigt sich der Gedanke, könnten alle genannten auch auf rein theoretischer Ebene arbeiten. Vielleicht gibt es eine ideale Kombination von Puzzleteilen, was Antworten und Aktionen angeht. Wie ist die rauszubekommen?

Dauerhaft edit

Letztmalig aus der gleichen Stelle in der Präambel:

„Ziel von Wikimedia Deutschland - Gesellschaft zur Förderung Freien Wissens ist es, Antworten auf die Frage zu finden, wie das Wissen endgültig befreit und damit allen Menschen dauerhaft zugänglich gemacht werden kann.“

Interpretation
Ein schlichter Punkt scheint der Hinweis auf Nachhaltigkeit zu sein. Auch ohne die genaue Zeitdauer definiert zu haben, die sich hinter „dauerhaft zugänglich“ verbirgt, ist die Intention hier klar. Das Ziel des Vereins dürfte nicht erreicht sein, wenn das Wissen der Menschheit für wenige Monate befreit wird, und danach wieder alte Verhältnisse zurückkehren. Auch klar ist, dass es konkrete zeitliche Grenzen der Planbarkeit in strategischen Prozessen gibt. Strategien gehen selten über mittelfristige fünf Jahre hinaus, Visionen nicht über 20 Jahre. Aber wenn die Forderung einer „dauerhaften Zugänglichkeit“ steht, dann kann das auch legitim als „für immer“ verstanden werden.
Fragestellung
Wie weit lassen sich die Themen des Vereins eigentlich in die Zukunft denken? Können wir, wenn natürlich nicht operativ, dann aber visionär an die Gesellschaft in 100 Jahren denken, nicht an die in 5 Jahren? Was hätte man davon?
Perspektive
In 50 Jahren gibt es vielleicht weder in Deutschland noch anderswo Wikimedia-Organisationen. Und das sei nur um des Argumentes willen gesagt, denn als Frage bliebe auch in so einem Fall: Ist der dauerhafte Zugang zu Freiem Wissen davon abhängig? Ist er in 50 Jahren vielleicht schon lange Standard? Viele Szenarien sind denkbar. Vielleicht lässt sich Hilfreiches entdecken, wenn sie jetzt schon angedacht werden. Es ist eine Sache, an die eigene Vorstellung der Zukunft zu denken. Eine andere ist es, zu hinterfragen, welche Bedingungen wohl die Zukunft im besten oder schlimmsten Fall an einen selbst stellen wird.

Schwerpunkte edit

Aus § 2 Ziele und Aufgaben, Absatz (4):

„(4) Dem Zweck des Vereins sollen namentlich dienen:

  • der Betrieb und die finanzielle Förderung des Betriebs von Internetsystemen zur Erstellung, Sammlung bzw. Verbreitung Freier Inhalte. Der Schwerpunkt soll dabei auf den verschiedenen internationalen Wikimedia-Projekten liegen.
  • die Verbreitung und die Förderung der Verbreitung Freier Inhalte auf anderen Wegen, zum Beispiel in digitaler oder gedruckter Form, mit Schwerpunkt auf den Inhalten der verschiedenen internationalen Wikimedia-Projekte.
  • die Beschaffung, Bereitstellung und Verbreitung von Informationen sowie die Öffentlichkeitsarbeit zum Thema Freie Inhalte, Wikis und den verschiedenen Wikimedia-Projekten. Dies soll beispielsweise durch Veranstaltungen oder Informationsmaterial geschehen.
  • die Klärung wissenschaftlicher, sozialer, kultureller und rechtlicher Fragen im Zusammenhang mit Freien Inhalten und Wikis zum Beispiel durch Gutachten, Studien und Vergabe von Stipendien.“
Interpretation
Bereits in der Präambel der Satzung wird der Begriff des Freien Wissens definiert als etwas, das frei erreicht werden kann, frei bearbeitet und frei weiterverwendet. Das bedingt zwangsläufig, dass jeder das tun können muss, von überall aus, zu jedem Zweck. Die ersten beiden Punkte des §2, (4) thematisieren nun Wege, auf denen die Förderung Freien Wissens erreicht werden soll. Es geht explizit um die dafür notwendige technische Unterstützung einerseits, sowie die Förderung freier Inhalte auf anderen Wegen. In beiden Fällen wird eine identische Einschränkung gemacht, indem der „Schwerpunkt“ auf den internationalen Wikimedia-Projekten liegen soll.
Fragestellung
Kann Freies Wissen, als von jedem überall und zu jedem Zweck verwendbares Gut, eigentlich schwerpunktmäßig an einem definierten Platz/Ort/Umwelt/Umgebung konzentriert werden? Sind in den Wikimedia-Projekten nicht gerade die Menschen versammelt, die dem Grundgedanken des Freien Wissens offensichtlich schon positiv gegenüber stehen? Rennt man hier nicht offene Türen ein, während sie anderswo (das Netz ist weit) verschlossen sind? Liegt das „Spielfeld“, wenn man so will, das der freie Zugang zu Wissen noch vereinnahmen muss, also nicht außerhalb der Wikimedia-Projekte?
Perspektive
Der Begriff „Schwerpunkt“ bringt schon im Wortsinn mit sich, dass auch etwas daneben mitgedacht wird. Es geht mithin nicht um einen reinen Fokus auf die Wikimedia-Projekte. Dennoch bleibt die Frage, wie mit dieser Perspektiventeilung umgegangen wird. Ab wann ist ein Schwerpunkt ein Schwerpunkt und kein gleichberechtiger Teil oder ein Nebenpunkt mehr? Auch hier sind ganz unterschiedliche Praktiken denkbar. Man kann tatsächlich auch mehrere Schwerpunkte definieren, von denen die technische Unterstützung der Wikimedia-Projekte nur einer neben anderen wäre. Auf dem anderen Ende der Denkbarkeitsskala könnte ein fast ausschließlicher Fokus auf die Projekte gelegt werden, neben denen alles andere eine Randnotiz wäre. Nur, würde das in diesem Fall nicht der Definition Freien Wissens widersprechen?