Wikimania05/Paper-MK3

This page is part of the Proceedings of Wikimania 2005, Frankfurt, Germany.


Strukturierungstheorie: Ein Rahmenwerk für die Wiki-Forschung?

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Wikipedia als selbstorganisierende Online-Community

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Die Wikipedia hat sich in den letzten Jahren zu einer beeindruckenden Enzyklopädie entwickelt. Mittlerweile sind ca. 1,5 Millionen Artikel (Stand 22. April 2005) in über 130 Sprachen bzw. Dialekten (darunter auch z.B. auch die Kunstsprache Esperanto oder auch Klingonisch) verfügbar . Die Wikipedia ist entstanden aus dem Nupedia-Projekt, das ursprünglich einmal eine Enzyklopädie mit einem Peer-Review-Prozess werden sollte (vgl. Sanger 2005 & Sanger 2005b) . Aus verschiedenen Gründen litt das Nupedia-Projekt unter mangelnder Beteiligung - so entstand die Idee, eine Enzyklopädie zu starten, zu der Wissen von jedem Menschen beigetragen werden kann. Bei einem Abendessen erläuterte der Programmierer Ben Kovitz, der lange Zeit auf dem Urwiki von Ward Cunningham aktiv war, Larry Sanger das Konzept von Wikis. Am 15. Januar 2001 ging die Wikipedia unter der Adresse http://www.wikipedia.com ans Netz. Im Gegensatz zum Nupedia-Projekt basiert die Idee der Wikipedia auf einer offenen Beteiligung aller Interessierten. Da die Wikipedia mit einem Wiki-System arbeitet, haben alle Nutzerinnen und Nutzer die Möglichkeit, dort Inhalte zu verändern (vgl. ausführlicher Leuf & Cunningham 2001, Baumgartner & Kalz 2004). Aufgrund dieser Offenheit des Systems wird bei der „Außenwahrnehmung“ der Wikipedia oft über die Qualität der Artikel gesprochen. Es hat den Anschein, als sei die Wikipedia ein anarchistisches Projekt ohne Kontrolle und Überprüfung der Inhalte. Zwar hat auch die Qualitätsdiskussion ihren Sinn und ihre Gültigkeit und die Qualität der Artikel in der freien Online-Enzyklopädie spielt eine wichtige Rolle, jedoch wird nach meiner Wahrnehmung ein wichtiger Aspekt der Wikipedia vernachlässigt: Die Wikipedia ist ein Paradebeispiel für eine selbstorganisierende Online-Community, deren Mitglieder aktiv in die Organisationsprozesse der Gemeinschaft eingreifen (vgl. Wiley & Edwards 2004). Jeder Artikel in der Wikipedia ist nicht nur das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses über die neutrale Darstellung des Wissens zu einem bestimmten Thema, sondern auch das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses über die Regeln und Ressourcen, die in der Wikipedia zur Anwendung kommen: Die Mitglieder der Wikipedia (und auch die anonymen Beitragenden) wirken ständig an einem Prozess der Selbstorganisation dieser Regeln und Ressourcen mit, die sich über die Zeit institutionalisieren. Neben der rein inhaltlichen Seite vollziehen sich also in Wikis und der Wikipedia zahlreiche soziale Prozesse, die bis heute nur wenig reflektiert wurden.

Die Wikipedia ist eine offene Web-Community, in der die Bildung, Verstetigung und Veränderung der Strukturen durch die besondere Wiki-Technologie und die Speicherung aller Seiten und ihrer Versionen sichtbar und nachvollziehbar ist. So eröffnet sich durch diese technologischen Aspekte ein Blick auf die „Entstehungsgeschichte“ einer Online-Community, der der Forschung bisher verwehrt war. Diese Offenheit gegenüber Änderungs- und Reorganisationsprozessen bringt jedoch auch ein gewisses Problem bei der wissenschaftlichen Betrachtung mit sich: Wie soll man der Komplexität von Wikis und der Wikipedia als eines der größten Wiki-Beispiele gerecht werden? Bei der Erforschung von Wikis begibt man sich in ein Netz aus unterschiedlichen Spannungsfeldern:

Abbildung 1: Spannungsfelder bei der Untersuchung von Wikis

Das Verhältnis zwischen Ereignissen auf einer Mikro-Ebene und ihre Auswirkungen auf einer Makro-Ebene ist eine offene Fragestellung. Wie beeinflussen die Handlungen einzelner Akteurinnen und Akteure die Gesamtorganisation? Wie beeinflusst die Gesamtorganisation wiederum das Handeln der Akteurinnen und Akteure? Wie „wirken“ die Handlungen der Individuen sich auf die Struktur eines Wikis aus? Neben dieser analytischen Fragestellung begibt man sich auch in ein Spannungsfeld zwischen Soziologie und Technologie. Beide Bereiche lassen sich nicht klar von einander abgrenzen. So basiert die technologische Weiterentwicklung von Wikis (speziell auch von Mediawiki) oft auf einem komplexen Partizipationssystem unterschiedlichster Gruppen (Nutzende, Entwickelnde etc.) – letztlich liegen hier verschiedende soziale Prozesse zugrunde. Andererseits sind die sozialen Prozesse in einem Wiki wiederum nicht ohne den Zugriff auf technologische Ressourcen (Wiki-Funktionalitäten) möglich. Der endgültige Ausschluss von Nutzenden nach langwieriger Diskussion und wiederholtem Vandalismus durch das IP-Banning ist eine Machtressource, die nur durch technologische Entwicklung möglich ist. Ein weiteres organisationales Spannungsfeld ist das Verhältnis zwischen „Leadership“ und Selbstorganisation. Wer führt die Wikipedia? Im Fall der deutschsprachigen Wikipedia sicherlich zu einem Teil der aktive Wikimedia - Verein für freies Wissen e.V. Diese Führerschaft bezieht sich jedoch weniger auf das „Kerngeschäft“, nämlich die Erstellung und Organisation von Artikeln, sondern vielmehr auf Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Organisation von Veranstaltungen und der Verwaltung von Spendengeldern. In der alltäglichen Erstellung von Artikeln jedoch herrschen Selbstorganisationsprinzipien. Selbstorganisierender Systeme werden durch die folgenden Merkmale bestimmt (vgl. Lucas 2005, Fuchs 2004):

  • Sie sind autonom und ohne externe Kontrolle überlebensfähig.
  • Sie sind komplex (verschiedene Werte und Faktoren existieren nebeneinander).
  • Sie haben hierarchische Ebenen.
  • Sie sind zur Erhaltung ihrer Strukturen redundant und selbstbezüglich.
  • Sie sind instabil und in ihrer Entwicklung nicht vorhersagbar.
  • Sie haben globale Ordnungsmuster, die wiederum aus lokalen Interaktionen emergent hervorgehen.

In der Wikipedia sind vorhandene Regeln zur Einstellung von Artikeln durch Aushandlungsprozesse entstanden und nicht von oben herab erlassen worden. Jedoch ist auch dieses Prinzip nicht durchgängig, denn zum Teil ist das Ergebnis der Selbstorganisation in der Wikipedia, dass eine „Regelung von oben“ gewünscht wird. Bottom-up trifft in der Wikipedia täglich Top-Down. Ein weiteres Spannungsfeld ist das Theorie/Praxis-Feld. Wikis sind durch ihre technologische Flexibilität nur schwer in ihrer tatsächlichen Nutzungsart voraussehbar. Von daher entstehen Strukturen erst in der Praxis ihrer Verwendung. Ein technologischer Determinismus, der anhand von Softwarefunktionen etwas über Nutzungspraktiken auszusagen versucht, ist wenig hilfreich bei der Untersuchung von Wikis, da die „Ausformungen“ der Struktur eines Wikis noch von anderen Aspekten abhängig ist wie z.B. dem organisationalen Rahmen und dem Ziel ihrer Nutzung. In den letzen beiden Abschnitten ist vermehrt der Begriff der Struktur gefallen, der für das weitere Verständnis von zentraler Bedeutung ist. Ward Cunningham beschäftigt sich in „The Wiki Way“ ebenfalls mit den Strukturen und der Strukturierung von Wikis: „The relationship between pages and between text sections in a page automatically defines your basic structure. Guiding and tweaking how that structure develops can be a worthwile effort” (Leuf & Cunningham 2001, 122f). Für ihn sind Strukturen die Kombination aus Hyperlinks und Übersichtsseiten, die eine Ordnung der Inhalte liefern. Unter Strukturen versteht Cunningham reine Inhaltsstrukturen. In diesem Beitrag soll ein erweitertes Verständnis von Strukturen zugrunde gelegt werden. Auf der Grundlage der Theorie der Strukturierung von Anthony Giddens soll dabei ein Rahmenmodell für die Erforschung der sozialen Prozesse und Strukturen innerhalb der Wikipedia dargestellt werden. Dazu gehe ich in einem ersten Schritt kurz auf die Theorie der Strukturierung und das Strukturverständnis des britischen Soziologen Sir Anthony Giddens ein. Da hier nur einige zentralen Punkte der Theorie dargestellt werden, soll zur Vertiefung auf die Literaturliste am Ende verwiesen werden.

Die Theorie der Strukturierung von Anthony Giddens

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Die Theorie der Strukturierung, die Giddens in seinem Werk „Die Konstitution der Gesellschaft“ 1984 erstmals als eigenständige Theorie ausgearbeitet hat, versucht einen Mittelweg zwischen subjektivistischen und objektivistischen Ansätzen zur Erforschung von sozialen Strukturen einzuschlagen. Giddens selbst sieht seine Theorie als längere Abhandlung des Marxschen Satzes „Die Menschen machen ihre Geschichte selbst, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken“ (vgl. Giddens 1984, S. 35). Er kritisiert das funktionalistische Verständnis von Struktur, in dem Struktur wie eine starre architektonische Vorgabe verstanden wird. In seiner Kritik an den funktionalistischen Ansätzen konzentriert er sich besonders auf die Trennung zwischen Subjekt und Struktur. Struktur wird hier dem menschlichen Handeln äußerlich, als eine Quelle von Einschränkungen der freien Spontaneität des unabhängig davon konstituierten Subjekts angesehen. Aber er wendet sich auch gegen subjektivistische Ansätze, in denen Zwang und beschränkende Faktoren weitgehend ignoriert werden. Interessanter erscheint Giddens das poststrukturalistische Verständnis von Struktur, denn hier wird der Strukturbegriff als „Schnittpunkt zwischen Gegenwärtigem und Abwesendem gedacht“, in dem „die zugrunde liegenden Codes aus Oberflächenerscheinungen abgeleitet werden können“ (vgl. Giddens 1984, S. 68). Strukturen sind nach Giddens als virtuelle Ordnung zu verstehen und Akteure orientieren sich an ihnen über Regeln und Ressourcen. Im Zentrum seiner Theorie steht die „Dualität von Struktur“, die ein rekursives Verhältnis zwischen Handeln und Struktur postuliert. In jedem Handeln bilden sich gegebene Strukturen ab, genauso wie das Handeln wiederum auf die Strukturen wirkt und diese reproduziert. Giddens legt seiner Theorie einen kompetenten Akteur zugrunde, der reflexiv sein Handeln steuert. Menschen sind in ihrem Handeln demnach keineswegs unveränderlichen gesellschaftlichen Realitäten ausgesetzt, die auf ihr Handeln wirken, andererseits bewegen sie sich aber auch nicht in einem völlig „unstrukturierten“ Raum. Die sozialen Akteure reproduzieren durch ihre Handlungen die Bedingungen, die ihr Handeln ermöglichen. Strukturen sind demnach sowohl Medium als auch Ergebnis sozialen Handelns. Die Akteure sind im Giddensschen Ansatz kompetent und sowohl mit Reflexionsmächtigkeit als auch Intentionalität ausgestattet (vgl. Walgenbach 1999, S. 358). Im „Stratifikationsmodell des Handelnden“ stellt Giddens verschiedene Ebenen des individuellen Handelns dar. Er geht davon aus, dass Menschen mit einer bestimmten Handlungsmotivation handeln (wobei diese Motivation oft unbewusst ist), ihre Handlungen auf Nachfrage begründen können (Handlungsrationalisierung) und im „Strom des Alltagslebens“ insgesamt ihr Handeln reflexiv steuern. Jedoch werden Handlungen auch stets durch unerkannte Handlungsbedingungen und unbeabsichtigte Handlungsfolgen beeinflusst (vgl. Giddens 1984, S. 56). Giddens stellt drei verschiedene strukturelle Dimensionen dar:

Abbildung 2: Dimensionen der Dualität von Struktur (siehe Giddens 1984)

Die Dimensionen von Struktur zeigen sich als Signifikation (Zuschreibungen & Wertzuweisungen wie Symbole oder Weltbilder), Legitimation (Rollen/Verantwortung/rechtliche Institutionen) und Herrschaft. Er sieht diese Trennung der Dimensionen als analytische Trennung und weist darauf hin, dass die Übergänge zwischen den Dimensionen fließend sind und die Dimensionen eng mit einander in Verbindung stehen. Zwischen den Strukturprinzipien auf der Ebene der Institution und den Interaktionen der Akteure hat Giddens eine Modalitätsebene eingefügt. Diese Ebene ergibt sich dadurch, dass Strukturen in der Theorie der Strukturierung nur über das Handeln der Akteure beobachtbar sind. „Modalitäten beziehen sich auf die Vermittlung zwischen Interaktion und Struktur. Sie können als Repräsentation der Strukturelemente auf der Eben des handelnden Subjekts interpretiert werden“ (Walgenbach 1999, S. 363). Bryant und Jary fassen diesen Umstand wie folgt zusammen:

„Structure [...] only exists in the memory of knowledgeable agents and as instantiated in action“ (Bryant & Jary 2001, 12).

Signifikation als Sinnkonstitution findet auf der Interaktionsebene (der Ebene der menschlichen Handlungen) über Kommunikation statt, sie kann jedoch nur über die Modalität der interpretativen Schemata der Akteure betrachtet werden. Unter Interpretationsschemata versteht Giddens die „Typisierungsweisen, die in den Wissensbeständen der Akteure enthalten sind und zur Aufrechterhaltung der Kommunikation reflexiv angewandt werden“ (vgl. Giddens 1988, S. 82). Die Dimension der Herrschaft in sozialen Systemen drückt sich auf der Interaktionseben über Macht und Machtausübung aus, jedoch ist diese wiederum nur über die Modalität der Ressourcennutzung und Ressourcenzuweisung zu beobachten. Die Legitimationsdimension sozialer Systeme wird auf der Interaktionsebene über Sanktionen vermittelt, jedoch kann diese nur über die Normen erforscht werden. Das Ziel der Theorie der Strukturierung ist es, ein ontologisches Rahmenwerk für die Untersuchung sozialen Handelns zu liefern. Mit der Theorie der Strukturierung „entstehen Bilder von sozialen Systemen als Ströme von Handlungen, die eine bestehende soziale Welt aufrecht erhalten[…] Struktur – verstanden als rekursiv organisierte Regeln und Ressourcen - ist der Grund dafür, dass soziale Praktiken über unterschiedliche Systeme von Raum und Zeit hinweg als identische reproduziert werden und somit systemische Formen erhalten" (Walgenbach 1999, S. 361ff).

Giddens Werk hat eine ausführliche Diskussion im soziologischen Diskurs ausgelöst (vgl. Clark, Modgil & Modgil 1990, Bryant & Jary 1991, Bryant & Jary 2001), die hier nicht dargestellt werden kann. In diesem Beitrag will ich mich vielmehr auf die Rezeption der Theorie der Strukturierung bei der Erforschung der Nutzung von Informationstechnologie konzentrieren. Dazu sollen im Folgenden zwei Beispiele vorgestellt werden (vgl. auch Pozzebon & Pinsonneault 2001).

Technologiebezogene Folgemodelle

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Die Übertragung der Giddenschen Theorie der Strukturierung auf die Untersuchung der Nutzung von Informationstechnologie in Organisationen soll in diesem Abschnitt an zwei Beispielen verdeutlich werden: Zuerst wird ein Strukturationsmodell von Informationstechnologie von Wanda J. Orlikowski und Daniel Robey vorgestellt, zum anderen die Adaptive Strukturationstheorie von Geraldine DeSanctis und Marshall Scott Poole eingeführt.

Ein Strukturationsmodell von Informationstechnologie

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Orlikowski und Robey haben die Theorie der Strukturierung für die Untersuchung der Nutzung von Informationstechnologie in Organisationen aufgegriffen. Sie formulieren auf Basis von Giddens Arbeiten eine integrative Theorie für die Erforschung der Nutzung von Informationstechnologie, die eingebettet ist in die generelle Erforschung sozialer Struktur und sozialen Handelns (Orlikowski and Robey 1991). Dazu beziehen sie sich auf unterschiedliche analytische Ebenen bei der Untersuchung der Nutzung von Informationstechnologie in Organisationen:

Abbildung 3: Strukturationsmodell von Informationstechnologie (in Anlehnung an Orlikowski & Robey 1987)


Die drei Aspekte „Organisation“ (oder organisationaler Rahmen), „Akteure“ und „Technologie“ stehen nach Orlikowsky & Robey in einem multiplen Wechselverhältnis zu einander:

  • Informationstechnologie als Produkt menschlicher Handlungen

Auf dieser Ebene beziehen sich die Orlikowski und Robey darauf, dass Informationstechnologie zwar „maschinell“ verarbeitet und visualisiert wird, jedoch trotzdem ein Produkt von Menschen ist. Informationstechnologie ist ein Artefakt, das in bestimmten gesellschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen produziert wird. In den Design und Entwurfsprozessen werden (oft unbewusst bzw. unbeabsichtigt) Annahmen und Voraussetzungen von denjenigen eingebaut, die beispielsweise für Design oder Programmierung zuständig sind. Insofern hängt die erfolgreiche Nutzung von Informationstechnologie zu hohem Maß davon ab, ob diese Annahmen und Voraussetzungen der Entwickelnden sich mit denen der Endnutzenden decken. Erst in Aneignungsprozessen durch die Nutzenden zeigt sich diese Passung. Weiterentwicklungen sind notwendig, wenn ein großer Teil der Nutzenden nicht die mit der Informationstechnologie intendierten Ziele erreichen kann.

  • Informationstechnologie als Medium menschlicher Handlungen

Menschen handeln mit und über Informationstechnologie. In diesen Handlungsprozessen hat Technologie sowohl einen ermöglichenden als auch einen behindernden Charakter. Technologie determiniert dabei in Anlehnung an Giddens niemals soziale Praktiken. Jede Informationstechnologie eignen sich ihre Nutzenden an – Orlikowski und Robey sprechen hier von sog. Appropriationsprozessen. Diese Prozesse sprechen gegen eine deterministische Betrachtungsweise von Informationstechnologie: Aneignungsprozesse können nicht vorausgesagt werden – zu groß sind die Handlungsoptionen der Nutzenden. Es kann z.B. jederzeit zu einer kreativen „Missnutzung“ von Informationstechnologie kommen, die nicht mit den eigentlichen Zielen der technologischen Lösung deckungsgleich ist.

  • Bedingungen von technologiebasierten Interaktionsprozessen

Bei der Nutzung von Informationstechnologie handeln Menschen nicht isoliert von ihren organisationalen Rahmenbedingungen. In ihren Aneignungsprozessen (Appropriationsprozessen) werden Akteure beeinflusst durch Werte, Macht, Interessen und die Kultur, die das Handeln umgibt. In der Nutzung von Informationstechnologie werden andererseits Normen, Ressourcen und Machtverhältnisse aus dem organisationalen Rahmen reproduziert.

  • Folgen von technologiebasierten Interaktionsprozessen

Bei der Nutzung von Informationstechnologie können Aktuerinnen und Akteure entweder die vorhandenen Strukturen reproduzieren oder diese verändern. Strukturen wirken auf die Nutzung von Informationstechnologie während die Nutzung wiederum auf die Strukturen wirkt. Somit kann die Nutzung von Informationstechnologie in organisationalen Kontexten Folgen haben, die entweder konform sind mit den organisationalen Regeln und Werten oder diesen entgegenstehen.

Das Modell ist nicht sequenziell gedacht, die Aspekte werden nur zur analytischen Distinktion benutzt. Orlikowski und Robey ziehen weiterhin die Giddensche Modalitätsebene in ihre Überlegungen ein. Demnach bieten Informationstechnologien durch die Repräsentation von Symbolen und Konzepten einen Satz aus interpretativen Schemata. Softwaresysteme können so als interpretative Schemata zur Überführung menschlicher Handlungen in Routinen gesehen werden. Änderungen an der Software können so direkt Einfluss auf Sichtweisen und Interaktionsroutinen von Aktuerinnen und Akteuren haben. Ebenso lässt sich der Aspekt der Ressourcen und Normen auf die Nutzung von Informationstechnologie in Organisationen übertragen. Bei der Nutzung von Informationstechnologie wird auf verschiedene Arten von Ressourcen in Form von Informationen und Funktionen zugegriffen. In Informationstechnologie wird meist der reale Entscheidungsfindungsprozess in einer Organisation abgebildet. Das Design der eingesetzten Informationstechnologie führt zu einem inkorporierten Machtverhältnis, das über Zugriffsrechte auf Ressourcen realisiert ist. Auch Normen können in Informationstechnologienutzung abgebildet werden. Normen lassen sich über Informationstechnologien formalisieren und Handlungsoptionen kontrollieren.

Mit ihrem Modell wollen die AutorInnen folgende Fragestellungen untersuchen:

  • Die Entwicklung von Technologie und den Einfluss des organisationalen Kontextes bei der Entwicklung.
  • Den Prozess, durch den Technologie in Organisationen institutionalisiert wird.
  • Die beabsichtigten und unbeabsichtigten Folgen der Einführung von Technologie in Organisationen.
  • Die Bedingungen, unter denen die institutionalisierte Technologie in ihrer Form und Funktion über Handlungen verändert wird.
  • Die Bedingungen, unter denen technologiegestützte Interaktionsprozesse den organisationalen Rahmen (über Signifikation, Herrschaft und Legitimation) verändern oder bestärken.

Auf der Basis dieser Theorie formulieren die AutorInnen ein Forschungsprogram, das sich auf den Entwicklungsprozess und die Konsequenzen des Einsatzes von Informationstechnologie konzentriert. Dabei organisieren Orlikowski und Robey beide Forschungsschwerpunkte in unterschiedlichen Dimensionen. Im Bereich der Systementwicklung konzentrieren sie sich sowohl auf die sozialen Strukturen bei der Systementwicklung als auch auf die Strukturierung von Informationstechnologie als Handlung im Entwicklungsprozess. Sie betonen beim Entwicklungsprozess von Softwaresystemen die Rolle des institutionalen Kontextes, der sich wiederum in den Strukturdimensionen der Signifikation, Herrschaft und Legitimation ausdrückt. Dabei beeinflusst das individuelle Wissen der Entwickelden sowie ihre interpretativen Schemata sowie die organisationalen Beschränkungen (Zeit, Budget, Rolle etc.) und Werte bzw. Konventionen der Organisation den Entwicklungsprozess maßgeblich. Der Entwicklungsprozess selbst stellt das Ergebnis sozialen Handelns dar. Dabei kann besonders eine Konzentration auf die Modalitäten des Entwicklungsprozesses neue Forschungsergebnisse liefern. Außerdem sind Rollen im Entwicklungsprozess ein wichtiger Aspekt. Mit Rollen ist z.B. die Einbeziehung von zukünftigen Nutzenden während der Entwicklung gemeint, aber auch Rollen wie Projektleitung, Entwicklung und Softwareevaluation. Den anderen Teil des Forschungsprogramms nimmt die Erforschung der sozialen Konsequenzen der Nutzung von Informationstechnologie ein. Dabei ist vor allem die Art und Weise interessant, wie Informationstechnologie eingeführt, angeeignet und verändert wird und die entsprechenden Konsequenzen im gegebenen organisationalen Rahmen. Informationstechnologie wird dabei als komplexes Konstrukt aus Regeln, Wertzuschreibungen und Ressourcen gesehen. Informationstechnologie als Medium sozialen Handelns beeinflusst das Handeln von Aktuerinnen und Akteuren in Organisationen. In der Nutzung von Informationstechnologie können sich neue Strukturen herausbilden, die dann mit Hilfe der Technologie institutionalisiert werden. Weiterhin ist das Verhältnis zwischen der Systementwicklung und den sozialen Konsequenzen ein Querschnittsthema zwischen beiden Aspekten des Forschungsprogramms.

Mit ihrem Strukturationsmodell von Informationstechnologie haben die Orlikowski und Robey die Giddenssche Theorie auf den Einsatz von Informationstechnologie in Organisationen übertragen. Dabei konzentrieren sie sich sowohl auf den Entwicklungs- als auch den Nutzungsprozess von Software. In beiden "Phasen" spielen soziale Strukturen eine wichtige Rolle - besonders in der Nutzung von Informationstechnologie wird die Analogie zur Strukturierungstheorie deutlich. Im Folgenden soll ein weiteres Modell vorgestellt werden, dass sich auf der Grundlage der Theorie der Strukturierung mit der Nutzung von Informationstechnologie beschäftigt.

Die Adaptive Strukturierungstheorie

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Gerardine DeSanctis und Marshall Scott Poole stellen mit der Adaptiven Strukturierungstheorie (AST) ein Modell vor, mit dem sie die Komplexität der Nutzung von „fortgeschritten Informationstechnologien“ und deren Zusammenhang zu organisationalem Wandel beschreiben wollen. Dabei gehen sie von der Grundannahme aus, dass die Effekte dieser Technologien weniger von den technologischen Funktionen abhängig sind sondern mehr von deren konkreter Nutzung. DeSanctis und Poole unterscheiden zwischen zwei verschiedenen Strukturebenen:

File:Ast structure.png

Abbildung 4: Strukturverständnis in der AST

Die AST unterscheidet - wie auch Orlikowski und Robey - zwischen den Strukturen, die durch Entwicklung/Design in Form von Regeln und Ressourcen in diese Software integriert worden sind und den Strukturen, die bei der Nutzung dieser Technologie in der Interaktion von Aktuerinnen und Akteuren entstehen. Man könnte diesen ersten Strukturaspekt auch als „Architektur“ beschreiben.

DeSanctis und Poole beziehen sich auf weitere Theorien, die sich auf den Zusammenhang zwischen Technologienutzung und organisationalem Lernen konzentrieren und kritisieren diese. Dabei stellen sie die „Entscheidungsfindungsschule“ der „Institutionellen Schule“ gegenüber. Die „Entscheidungsfindungstheoretiker“ sind nach DeSanctis und Poole in einer positivistischen Tradition verankert. Sie bewerten die Rolle der Technologie als Mittel zur Überwindung menschlicher Schwächen und sehen ein Scheitern von technologie-induzierten Veränderungsprozessen als technologisches Problem oder bestenfalls noch als Implementationsproblem. DeSanctis und Poole betonen, dass es einen Zusammenhang zwischen technologischen Funktionen und organisationalem Wandel gibt, jedoch kritisieren sie, dass es keinerlei statische Korrelation geben kann:

„There is no doubt that technology properties and contextual contingencies can play critical roles in the outcomes of advanced information technology use. The difficulty is that there are no clearcut patterns indicating that some technology properties are contingencies consistently lead to either positive or negative outcomes” (DeSanctis & Poole 1994, S. 124).

Die Strategie der Entscheidungsfindungsschule ist DeSanctis und Poole zufolge die immer tiefer gehende Untersuchung der technologischen Funktionen, jedoch sehen sie auch diesen Weg als nicht Gewinn bringend für die wissenschaftliche Erkenntnis:

„The difficulty is, of course, the repeating decomposition problem: there are features within features (e.g. options within software options) and contingencies within contingencies (e.g., tasks within tasks). So how far must the analysis go to bring consistent, meaningful results?” (DeSanctis & Poole 1994, S. 124).

Die institutionelle Schule konzentriert sich hingegen weniger auf technologische Strukturen, sondern eher auf die sozialen Prozesse in Institutionen, die bei der Nutzung von Technologie entstehen. Technologie determiniert in diesem Ansatz nicht das Verhalten, sondern Nutzende entwickeln soziale Konstrukte bei der Technologienutzung, indem sie sich auf Ressourcen, Normen und interpretative Schemata im größeren institutionellen Kontext beziehen. Technologie wird von den Institutionalisten als potenziell flexibel eingeschätzt und so ist eine institutionalistische Analyse einer Technologie die Analyse der Beschreibung der zugeschriebenen Bedeutungsschichten ihrer Nutzenden. Institutionelle Analysen beschreiben das Zusammenspiel zwischen Technologie, Machtverteilung, Politik, Stratifikation und anderen sozialen Prozessen. DeSanctis und Poole kritisieren die Vernachlässigung der technologischen Details und sie sprechen sich für eine integrierte Perspektive aus. Diese dritte „integrierte“ Schule befürwortet einen weichen technologischen Determinismus, in dem technologische Funktionen und ihr Einfluss auf die handelnden Akteurinnen und Akteure nicht negiert werden, sondern diese im Zusammenspiel mit den sozialen Praktiken erst ihre Bedeutung erhalten (vgl. Chandler 1995). Modelle wie die symbolisch-strukturelle Interaktionismustheorie konzentrieren sich mehr auf den Mikro-Untersuchungslevel und untersuchen interpersonale medienvermittelte Interaktionen. Die Autoren kritisieren jedoch an diesem Ansatz, dass dieser eher für die Untersuchung der Wahrnehmung von Technologie genutzt worden ist und weniger für die Analyse des Zusammenspiels von Technologie und sozialen Strukturen.

Die AST versucht hingegen, dieses Zusammenspiel von Anfang an mitzudenken. AST will sowohl die inherenten Struktuturen beschreiben als auch die sozialen Prozesse, die durch die Nutzung erst entstehen: „It´s goal is to confront „structuring´s central paradox: identical technologies can occasion similar dynamics and yet lead to different structural outcomes” (Barley 1986). In ihrem Beitrag konzentrieren sich DeSanctis und Poole darauf, das AST-Konzept am Beispiel eines GDSS (Group Decision Support System) zu erläutern, jedoch betonen sie die Anwendbarkeit auch auf andere Bereiche. Die AST ist ein Modell, das das Zusammenspiel zwischen sozialen Strukturen, moderner Informationstechnologie und menschlichen Interaktionen beschreiben will. Angelehnt an die Giddenssche Theorie der Strukturierung konzentriert sich die AST auf soziale Strukturen, Regeln und Ressourcen von Institutionen und Technologien als Grundlage menschlicher Aktivität. Die AST geht davon aus, dass die Entwickler und Designer von Informationstechnologie institutionelle Strukturen auf die Software übertragen:

„Designers incorporate some of these structures into the technology; the structures may be reproduced so as to mimic their nontechnology counterparts, or they may be modified, enhanced, or combined with manual procedures, thus creating new structures within the technology. Once complete, the technology presents an array of social structures for possible use in interpersonal interaction, including rules […] and resources” (DeSanctis/Poole 1994, S. 125).

Strukturen in Handlungsprozessen sind Instanziierungen in sozialen Prozessen. Auf der einen Seite existieren also technologie-inherente Strukturen, auf der anderen Seite Strukturen in Handlungen. Beide sind untrennbar mit einander verbunden – es existiert eine rekursive Beziehung zwischen beiden Seiten der Medaille. Strukturen in Technologie und Handlungen formen sich gegenseitig.

Die sozialen Strukturen von Technologie lassen sich mit zwei Methoden beschreiben (vgl. Poole/DeSanctis)

  1. Einer Beschreibung der strukturellen Funktionen der Technologie und
  2. der „Philosophie“ dieser Funktionen (im Text „Spirit“ genannt).

Funktionen in Informationstechnologie bestimmen exakt, wie Informationen gesammelt, manipuliert und verwaltet werden können. Funktionen schaffen Bedeutung – Giddens nennt diesen Prozess Signifikation. Problematisch wird die strukturelle Funktionsbeschreibung, da es sich meist um eine lose Kopplung handelt, die in vielen Richtungen genutzt werden kann. Genau diese verschiedenen Implementationsmöglichkeiten trennen die modernen Informationstechnologien von ihren klassischen Vorgängern.

DeSanctis und Poole verstehen unter der „Philosophie“ einer Informationstechnologie die Absichten von Entwicklnden, die sich in den Werten und Vorteilen der strukturellen Funktionen ausdrücken. Die „Philosophie“ ist die offizielle Verwendungserwünschtheit, die den Nutzenden vorgibt, wie sie diese nutzen, interpretieren und mit Fehlern umgehen sollen. In Anlehnung an Giddens vergleichen sie die „Philosophie“ mit der Dimension der Legitimation. Die „Philosophie“ versorgt die Technologie mit einem „normativen Rahmen“, der „passende“ Verhaltensweisen bei der Nutzung vorgibt und somit dem Verständnis der Nutzer bei der Bedeutungszuschreibung dienen soll. Die „Philosophie“ ist den DeSanctis und Poole zufolge nicht mit den Intentionen der Entwickler gleichzusetzen – diese offenbaren sich zwar über die „Philosophie“ , jedoch ist die vollständige Erfassung der Intentionen nicht wirklich möglich. Die „Philosophie“ einer Software wird dadurch erfasst werden, dass Technologie als ein Text verstanden wird, der durch eine Analyse

  • der Designmetaphern der Technologie,
  • der Funktionen und deren Benennung und Präsentation,
  • der Art des Benutzerinterfaces und
  • von Hilfesystemen und anderen Unterstützungsangeboten

zu absolvieren ist. Bei der Analyse schlagen DeSanctis und Poole eine Triangulation der Quellen vor, die z.B. dadurch erreicht werden kann, dass Entwickelnde von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern kontaktiert werden, die Architektur analysiert wird, das Hilfematerial geprüft, die Interpretationen von Nutzenden einbezogen und Implementationsarten bewertet werden. Diese Einbeziehung verschiedener Quellen soll Widersprüche aufdecken und Aussagen darüber zulassen, ob die Software einer kohärenten Philosophie entspricht. Diese „Philosophie“ entwickelt sich jedoch weiter: Zu Beginn der Entwicklung ist dier „Philosophie“ in ständiger Bewegung: Die Entwicklelnden verändern diese durch die Weiterentwicklung und stellen dies in Veröffentlichungen dar – sie geben dadurch normative Nutzungsregeln vor. Nutzende tragen in dieser frühen Phase der Entwicklung ebenfalls durch Veröffentlichungen zur Festigung der „Philosophie“ bei. Für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist die Philosophie der Software als Status quo in Bezug auf die Zuschreibung von Werten und Vorteilen zu sehen. Dabei geht es DeSanctis und Poole eher um Fragen wie „Welche Werte werden durch die Software kommuniziert?“ oder „Welche Vorteile bietet diese?“ und weniger um Fragen wie „Wie sieht die Software aus?“ und „Welche Module enthält diese?“.

Diese beiden Untersuchungsaspekte sind zusammengenommen das strukturelle Potenzial, auf dessen Grundlage Nutzergruppen Entscheidungen über ihr Interaktionsverhalten und den Aufbau von sozialen Strukturen treffen. Fortgeschrittene Informationstechnologien bieten soziale Strukturen, die durch eine Beschreibung der Funktionen und der „Philosophie“ erfasst werden können. Durch die verschiedenen Funktionen und „Philosophien“ werden auch verschiedene Interaktionsstrukturen unterstützt.

Neben der Technologie ist jedoch auch der Einsatzrahmen zu beachten. So trägt auch der organisationale Rahmen zur Versorgung von Struktur bei. Es besteht auch hier eine Wechselwirkung mit der technologischen Struktur und der organisationalen Struktur. Besonders die Zielorientierung bzw. die Aufgabe der Software spielt hier eine wichtige Rolle. Die Nutzung fortgeschrittener Informationstechnologien kann variieren je nach Aufgabe, Einsatzumgebung und anderen kontingenten Aspekten, die die sozialen Strukturen beeinflussen können. Diese beiden Strukturmomente sind jedoch den Handlungen der Akteure vorgelagert. Durch die Nutzung und Anwendung entstehen wiederum Strukturquellen. Neue Strukturquellen entstehen, wenn die Technologie, die Aufgaben und die Nutzungsumgebung im Prozess der sozialen Interaktion wirken. Diesen Handlungsprozess auf der Grundlage der Regeln und Ressourcen nennen DeSanctis und Poole Strukturation.:

„The act of bringing the rules and ressources from an advanced information technology or other structural source into action is termed structuration. Structuration is the process by which social structures (whatever their sources) are produced and reproduced in social life.” (DeSanctis/Poole 1994, S. 128).

Diesen Prozess verdeutlichen sie anhand einer Mikro-Analyse. Als Beispiel wird die Funktionen des Brainstormings und der Notizfunktion einer Software herangezogen, die sie als sehr flexibel in der Nutzung durch ihre geringen Restriktionslevel, eine Effizienzphilosophie und demokratische Teilhabe beschreiben. Ein Strukturierungsprozess wäre hier z.B. die Anwendung und Nutzung dieser Funktionen innerhalb eines Meetings. Durch die Nutzung dieser Funktionen entstehen neue soziale Strukturen. Wenn eine Gruppe z.B. Abstimmungsergebnisse einer Software nutzt, akzeptiert und bezieht sie sich gleichzeitig auf die Regeln, die der Abstimmung und der Software zugrunde liegen. Die Nutzung und erneute Nutzung führt nach einer gewissen Zeit zu einer Institutionalisierung der Strukturen. Aus analytischen Gesichtspunkten lässt sich ein Struktutrationsprozess nur durch die Isolierung von Handlungen einer Gruppe bzw. deren Interaktionen auf der Grundlage eine bestimmten Technologie in einem bestimmten Kontext zu einer bestimmten Zeit erfassen. Die unmittelbare sichtbaren Handlungen, die Anhaltspunkte für Strukturationsprozesse liefern, nennen die Autoren Appropriationen. Diese Appropriationen können z.B. auch darstellen, dass eine Gruppe eine Funktion nicht im Sinne der Philosophie nutzt und somit aus Sicht der Entwickelnden nicht intendierte Handlungen auftreten. Neue soziale Strukturen entstehen in der Interaktion einer Gruppe, indem die Regeln und Ressourcen einer fortgeschrittenen Informationstechnologie appropriiert und in einem bestimmten Kontext angewendet und über einen Zeitraum reproduziert werden. Die Appropriationen sind jedoch nicht determiniert durch die technologischen Funktionen.

Insgesamt sind Appropriationsprozesse schwer zu beobachten, da sie die „tiefe Struktur“ der Entscheidungsfindungsprozesse einer Gruppe widerspiegeln. Verfechterinnen und Verfechter der Entscheidungsfindungstheorie argumentieren, dass mit der Nutzung von fortgeschrittenen Informationstechnologien “Prozessverlust“ in Gruppeninteraktionen ausgeglichen wird. DeSanctis und Poole zweifeln an dieser deterministischen Verknüpfung und verweisen auf die verschiedenen Ergebnisse der Nutzung. Entscheidungsprozesse in Gruppen sind abhängig von den Appropriationsentscheidungen bei der Nutzung einer Technologie.

Im Folgenden soll versucht werden, diese verschiedenen theoretischen Ansätze auf Wikis und die Wikipedia zu übertragen.

Strukturierungsprozesse in der Wikipedia

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Welche Bedeutung hat nun die Theorie der Strukturierung und die abgeleiteten Modelle für die Erforschung sozialer Prozesse in der Wikipedia? Wie oben bereits angedeutet, werden die Strukturen von Wikis in der Regel als rein technologische Strukturen oder Inhaltsstrukturen betrachtet. Dieser beschränkte Blick auf die Strukturen von Wikis kann mit Hilfe der Theorie der Strukturierung als Meta-Theorie deutlich erweitert werden. Strukturen von Wikis sind demnach Regel-Ressourcen-Komplexe, die sich über die Zeit institutionalisieren. Akteurinnen und Akteure in Wikis reproduzieren in ihren Handlungen die Struktur. Orlikowski und Robey verweisen auf die Beschränktheit einseitiger Forschungsansätze bei der Untersuchung der Nutzung von Informationstechnologie (vgl. Orlikowski & Robey 1991). Bei subjektivistischen Ansätzen steht demnach der menschliche Interpretations- und Appropriationsprozess im Vordergrund, während der organisationale Kontext und beschränkende Aspekte außer Acht gelassen werden. Ein subjektivistischer Ansatz, der nur auf die freie Entfaltung der Individuen in Wikis setzen würde, ohne vorhandene Architekturen und Regeln einzubeziehen wäre ebenso verkürzt wie die ausschließliche Beachtung technologischer Aspekte, die letztlich deterministisch Voraussagen darüber bringen sollen, wie sich Strukturen in Wikis entwickeln. Wikis sind sowohl das Produkt als auch das Medium menschlicher Handlungen. Softwareentwicklungen implementieren über Code bestimmte strukturelle Voraussetzungen, die zumindest auf den Strukturationsprozess wirken können. Ein weicher technologischer Determinismus erscheint auch bei Wikis sinnvoll. Sowohl Orlikowski & Robey als auch DeSanctis & Poole betonen die Bedeutung von inkorporierten Strukturen, die ich im Folgenden lieber als „Architektur“ bezeichnen will. Es werden (oft unbewusst) Regel-Ressourcen-Komplexe von Entwicklern implementiert, die ein bestimmtes hierarchisches Nutzungsmodell nahe legen.

Das Wiki-Konzept ist von daher besonders interessant, als dass zwar einige Regel-Ressourcen-Komplexe dort zu finden sind, deren Nutzung jedoch nicht zwingend notwendig ist. Ein Beispiel: Mit nur einer kleinen Änderung der Konfiguration kann man die Software Mediawiki so konfigurieren, dass nur noch angemeldete Benutzer Inhalte editieren können. Dies wäre z.B. eine Möglichkeit, um gegen Vandalismus vorzugehen. Im Falle der Wikipedia hat man sich jedoch gegen diese Nutzung entschieden und setzt stattdessen auf das Konzept der Soft-Security, in dem nicht die Technologie sondern die Akteure gegen den Vandalismus vorgehen (vgl. dazu auch Lamb 2004). Von ihrer „Philosophie“ her sind Wikis prinzipiell offen - sie werden auch mit offenen Räumen verglichen (vgl. Meatball 2004). Ein Aspekt, den die Autorinnen und Autoren nicht voraussehen konnten, war die intensive Einbeziehung von Nutzenden in den Entwicklungsprozess von Software, der bei der Entwicklung von Wikis und speziell auch Mediawiki zu finden ist. Somit greifen die Nutzenden direkt auf den Entwicklungsprozess ein und haben somit nicht nur die Möglichkeit der Einwirkung auf Nutzungsstrukturen sondern auch auf die inkorporierten Strukturen im Entwicklungsprozess der Wikisoftware. Fraglich ist, welche Rolle der organisationale Kontext bei der Entwicklung spielt und wie dieser angesichts tausender verteilter Nutzender und Entwickelnder in Open-Source-Communities aussieht bzw. welchen Einfluss dieser auf die Entwicklung nimmt.

Auf der Ebene von Wikis als Medium menschlicher Handlungen offenbaren diese einen Umstand sehr deutlich, den die hier genannten Autorinnen und Autoren schon vor Jahren allgemein für Informationstechnologie festgestellt haben: Technologienutzung und speziell auch die Nutzung von Softwaretechnologie ist stets von Aneignungsprozessen ihrer Nutzenden und dem organisationalen Einsatzrahmen abhängig. Dieselbe Wiki-Software kann in Abhängigkeit von ihrem organisationalen Kontext und ihren Nutzenden in der Praxis ganz verschiedene Nutzungsweisen und Strukturen hervorbringen. Erst in der Nutzung der Technologie entstehen Strukturen, die sowohl die technologischen Funktionen als auch den organisationalen Rahmen rekursiv reproduzieren. Somit macht es wenig Sinn, allgemein von Strukturen von Wikis zu sprechen.

Die Wikipedia eignet sich von daher gut für die beispielhafte Untersuchung der Strukturen, als dass die Strukturierungsprozesse durch die Größe der Community dort beobachtbar sind. Jedoch unterliegt die Wikipedia als offene Online-Enzyklopädie ständigen Wandel. In der deutschsprachigen Version agieren zahlreiche Nutzende bei der Erstellung, Überarbeitung und Diskussion der Artikel. Somit kann die Beschreibungen der Struktur und des Inhalts stets nur eine Momentaufnahme sein. Dies legt nahe, eine dynamische Theorie anzuwenden, die organisationale Veränderungsprozesse (z.B. die Entstehung von neuen Regeln oder die Nutzung von neuen Ressourcen) über einen bestimmten Zeitraum betrachtet. Die Handlungen der Aktuerinnen und Akteure der Wikipedia (dazu zählen sowohl die angemeldeten Mitglieder als auch die anonymen Bearbeiterinnen und Bearbeiter) referenzieren auf den organisationalen Rahmen, den die Wikipedia vorgibt. Zu diesem organisationalen Rahmen gehören sowohl die ausformulierten Regeln und Hinweise der Wikipedia als auch die impliziten Regeln und die durch die eingesetzte Software Wikimedia inkorporierten Regeln und Ressourcen.

Soziale Strukturen in Wikis lassen sich über die Giddensschen Strukturdimensionen Signifikation, Herrschaft und Legitimation beschreiben, die wiederum über die interpretativen Schemata der Akteure, die Ressourcen und Normen untersucht werden können. Folgende Beispiele lassen sich in Bezug auf die Wikipedia anführen:

  • Signifikation: Untersuchung ausgewählter Konflikte in der Wikipedia

Bei der Signifikation geht es um Regeln, die Sinn in sozialen Systemen schaffen und Informationen erklären. Hier könnten z.B. Konflikte analysiert werden. Bei diesen stellt sich die Frage, welche Argumente und Regeln Akteurinnen und Akteure bei Konflikten für ihr Handeln anführen. Zur empirischen Untersuchung dieser Strukturdimension meint Behr:„Um […] Signifikationsstrukturen (die Sinnordnung eines sozialen Systems) zu untersuchen, müssen aus Kommunikationen von Akteuren (etwa teil-standardisierten Interviews) interpretative Schemata abgeleitet werden, die wiederum Ausdruck sind für Signifikationsstrukturen, auf die sich der Akteur bezieht. „Direkt“ untersucht und analysiert werden also Modalitäten, nicht Kommunikationen oder Strukturen“ (Behr 1997, 21).

  • Herrschaft: Untersuchung der Rollen- und Ressourcenverteilung in der Wikipedia

Die Wikipedia ist weder eine herrschaftsfreie noch anarchistische Online-Community. Es gibt hingegen ein mehrstufiges Rollensystem (Nutzer, Administratoren, Stewards etc.), wobei jede Rolle Macht ausüben kann, die wiederum über den Zugriff auf bestimmte Ressourcen sichtbar wird. Ressourcen sind im Falle des Wikis Zugriffsmöglichkeiten auf bestimmte Softwarefunktionen, in denen sich Machtverhältnisse wiederspiegeln.

  • Legitimation: Normen und Werte in der Wikipedia

Bei der Legitimationsdimension geht es weniger um interpretative Schemata sondern um Normen und Werte. Hier stellt sich die Frage, welche moralischen Normen und Werte dem Handeln in der Wikipedia zugrund liegt. Dies lässt sich besonders gut an umstrittenen Artikel untersuchen.

Forschungsperspektive

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Obwohl die Theorie der Strukturierung als Rahmenwerk für die Untersuchung, von Wikis und der Wikipedia, aber auch für Online-Communities und Social Software gut geeignet ist, fehlt es bisher an Ansätzen, wie diese Theorie empirisch umgesetzt werden kann. Giddens Ansatz wird zum Teil als Meta-Theorie verstanden und auch er selbst hat ausdrücklich nicht den Anspruch, daraus ein empirisches Programm abzuleiten:

„As you know, so far as empirical research is concerned, I have always emphasized that structuration theory can´t be applied en bloc to research problems. I can help if the researcher makes use of two or three of the basic concepts or uses it as a sensitizing device“ (vgl. Bryant & Jary 2001, 230f).

Anhand der beiden vorgestellten Referenztheorien zeigt sich, wie die Theorie der Strukturierung auch für die Nutzung von Informationstechnologie in Organisationen genutzt werden kann. Für die Untersuchung der Strukturen der Wikipedia ergibt sich anhand der hier vorgestellten Theorien und Modelle folgende Forschungsfrage:

Zentrale Fragestellung ist es, welche sozialen Strukturen durch Entwickelnde in die Wiki-Software inkorporiert wurden, wie diese von Aktuerinnen und Akteuren der Wikipedia angeeignet werden und wie auf der Basis der Funktionen und Aneignungsprozesse im organisationalen Kontext der Wikipedia Regel-Ressourcen-Komplexe entstehen und über die Zeit institutionalisiert werden. Diese Regel-Ressourcen-Komplexe lassen sich über die Strukturdimensionen der Signifikation, Herrschaft und Legitimation beschreiben und über die Modalitätsebenen der interpretativen Schemata, Ressourcen und Normen untersuchen.

Weitere Hinweise auf die empirische Untersuchung dieser Aspekte könnte zum einen die Verknüpfung der Theorie der Strukturierung mit Theorien der Selbstorganisation bieten (vgl. hierzu Fuchs 2003 & Fuchs 2004) oder aber das Konzept der "Strong Structuration" von Stones (vgl. Stones 2005).

Literatur

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Baumgartner, Peter & Kalz, Marco (2004): Content Management Systeme aus bildungstechnologischer Sicht. In: Baumgartner, Peter; Häfele, Hartmut; Maier-Häfele, Kornelia: Content Management Systeme in e-Education. Auswahl, Potenziale und Einsatzmöglichkeiten. Innsbruck.

Behr, Wolfgang (1999): Organisationales Lernen aus strukturationstheoretischer Perspektive. Uni Konstanz, Diplomarbeit: http://www.ub.uni-konstanz.de/kops/volltexte/1999/71/

Chandler, Daniel (1995): Technological or Media Determinism: http://www.aber.ac.uk/media/Documents/tecdet/tecdet.html

Bryant, G.A.; Jary, David (Hrsg.) (2001): The Contemporaray Giddens. Social Theory in a Globalizing Age. London.

Bryant, G.A.; Jary, David (Hrsg.) (1991): Giddens´ Theory of Structuration. A Critical Appreciation. London.

Bryant, G.A.; Jary, David: The Reflexive Giddens (1991): Christopher G. A. Bryant and David Jary in Dialogue with Anthony Giddens. In: Bryant, G.A.; Jary, David (Hrsg.): The Contemporaray Giddens. Social Theory in a Globalizing Age. London.

DeSanctis, Gerardine; Poole, Marshall Scott (1994): Capturing the Complexity in Advanced Technology Use: Adaptive Structuration Theory. Organization Science 5 (2): 121 – 147.

Fuchs, Christian (2003): Structuration Theory and Self-Organization. In: Systemic Practice and Action Research, Vol. 16, No. 4. pp. 133-167.

Fuchs, Christian & Stockinger, Gottfried (2003): The Autocreation of Communication and the Re-Creations of Action in Social Systems. In: Arshinov, Vladimir & Fuchs, Christian (Hrsg.): Causality, Emergence and Self-Organisation. Moscow. NIA-Priroda. ISBN 5-9562-0006-5. 332 pages

Giddens, Anthony (1984): Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. Campus. Frankfurt am Main.

Lucas, Chris (2005): Self-Organizing Systems (SOS) FAQ. Frequently Asked Questions Version 2.98 June 2005: http://www.calresco.org/sos/sosfaq.htm

Sanger, Larry (2005): The Early History of Nupedia and Wikipedia: A memoir: http://features.slashdot.org/article.pl?sid=05/04/18/164213&tid=95

Sanger, Larry (2005b): The Early History of Nupedia and Wikipedia. Part II: http://features.slashdot.org/article.pl?sid=05/04/19/1746205&tid=95.

Orlikowski, W. J. and D. Robey (1991). Information Technology and the Structuring of Organizations. Information Systems Research 2(2): 143 - 169.

Pozzebon, Marlei; Pinsonneault, Alain (2001): Structuration Theory in the IS Field: An Assessment of Research Strategies. In: Proceedings of The 9th European Conference on Informations Systems, Bled (Slovenia), June 27- 29.

Stones, Rob (2005): Structuration Theory. Houndmills 2005.

Walgenbach, Peter (1999): Giddens Theorie der Strukturierung. In: Kieser, Alfred (Hrsg.): Organisationstheorien. Stuttgart.

Wiley, D. A. & Edwards, E. K. (2002). Online self-organizing social systems: The decentralized future of online learning. Quarterly Review of Distance Education, 3(1), 33–46.

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