Fragen der Süddeutschen Zeitung
Abstract:
A journalist of the de:Süddeutsche Zeitung is writing an article about wikipedia and we agreed to ask the whole (German speaking) community to answer his questions in a collaborative effort rather than by just one press guy. The answers should stabilize at around July 23 and everyone is invited to contribute to the answers. Currently, we try to get one answer per question but there is no objection to show that there is a pluralism within the community. In the latter case, you might consider using the signature tildes. The questions are:
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Im folgenden ein paar Fragen, die von einem Redakteur der Süddeutschen Zeitung an uns gerichtet wurden. Er schreibt ergänzend: "bin schon sehr gespannt auf die Antworten der Wikipedianer: je bunter, desto besser." Bleibt die Frage, ob jeder seine eigenen Antworten formuliert und unter die Fragen setzt, oder ob wir uns an einer gemeinschaftlichen Beantwortung versuchen. Bis Ende der Woche sollte sich diese Seite jedenfalls stabilisiert haben. Das nächste Gespräch werde ich am Montag mit ihm führen.
Im Mittelpunkt der Wikipedia steht der freie Redaktionsprozess - jeder kann etwas hinzufügen, wegmachen, verändern... Wie kann man da
editEin freier Redaktionsprozess ist ein sehr mutiger Versuch, ein Versuch, dessen Ausgang wohl niemand richtig voraussehen konnte. Der Erfolg von Wikipedia, von dem wir heute zu sprechen wagen, ist noch lange kein Grund, um sich selbstzufrieden in der Sonne auszuruhen. Die Wikipedia ist immer noch ein Versuch, und bis heute kann noch niemand sicher sein, wie es morgen oder in 5 Jahren ausgeht. Aber Mut und Beharrlichkeit standen den meisten erfolgreichen Versuchen zur Seite.
a) Qualität schaffen und gewährleisten? Kann die Wikipedia das überhaupt?
editDer in der Frage vorausgesetzte "anarchische" Charakter der Wikipedia ist zutreffend: jeder Nutzer kann an jedem Artikel mitschreiben, etwas ändern oder auch Teile davon löschen. Hört man dies zum ersten Mal, so mag man kaum glauben, dass die Wikipedia trotzdem funktioniert.
Nach drei Jahren Wikipedia mit Tausenden von Nutzern in aller Welt ist es zumindest in der Praxis deutlich belegt: die Wikipedia funktioniert. Dazu tragen maßgeblich folgende Eigenschaften des technischen Systems bei:
- Jede Version eines Artikels wird gespeichert, d.h. nach jeder Änderung wird die komplette neue Version gespeichert, alle alten Versionen des Artikels bleiben aber weiterhin zugänglich. Dadurch wird verhindert, dass mutwillig oder versehentlich ein Artikel oder Teile davon unwiederbringlich gelöscht werden. Läuft etwas schief, so kann jeder Benutzer die alte Version mit wenigen Mausklicks wiederherstellen.
- Das bedeutet zugleich, dass jede Änderung dokumentiert wird, d.h. von allen anderen Benutzern beobachtet werden kann und in der Praxis beobachtet wird. Dies führt im Idealfall dazu, dass jede Änderung von vielen Augenpaaren begutachtet wird. Dazu trägt bei, dass jeder angemeldete Benutzer eine beliebige Zahl von Artikeln durch einfachen Mausklick auf seine persönliche Beobachtungsliste setzen kann.
- Jeder Artikel hat eine ihm zugeordnete Diskussionsseite, in der Detailfragen des Artikels geklärt werden. Dort finden die Menschen zusammen, die sich für den Ausbau des Artikels besonders interessieren. Viele Autoren haben die Erfahrung gemacht, dass erst dieser Austausch ein Gesamtwerk schafft, wie es kein einzelner Wikipedianer mit vertretbarem Aufwand hätte erzielen können.
- Qualitative Vorteile gegenüber herkömmlichen Lexika ergeben sich vor allem daraus, dass die Autoren nicht von finanziellen Überlegungen der Herausgeber abhängig sind. Zu jedem Artikel kann so viel recherchiert und geschrieben werden wie sinnvoll erscheint, Wikipedia wird ständig aktualisiert wie kaum ein anderes Nachschlagewerk, und der Leser kann sogar die Entwicklung der Aktualisierungen nachvollziehen und andere an gleichen Themen interessierte Benutzer fragen, wenn er unter seinem Schlagwort nicht das findet, was er eigentlich gesucht hat.
b) verhindern, dass hanebüchener Unsinn ins Kraut schießt?
editRichtig verhindern kann man es natürlich nicht, doch meistens werden unsinnige Beiträge recht schnell entdeckt und oft bereits nach wenigen Minuten korrigiert. Vor allem Beiträge von nicht angemeldeten Benutzern oder bekannten Störenfrieden werden kritisch beobachtet. Unsinn, der dem Laien nicht auffällt, bleibt so lange stehen, bis ein Experte den Fehler bemerkt. Schwieriger ist es mit Halbwahrheiten, denen man oft nicht widersprechen kann und die trotzdem falsch sein können. Da ist auch bei der Wikipedia die Hoffnung das Prinzip, dass noch etwas Besseres nachfolgt.
Da hier aber sehr unterschiedliche Menschen mitschreiben, haben wir für sehr viele Themen kleine oder große Experten. Gelegentlich kommt es vor, dass ein Fachkundiger, der eigentlich nur lesen möchte, durch Zufall auf einen Fehler stößt und uns dann Bescheid sagt, wenn er nicht selbst den Artikel ändern möchte oder auch nur das System der Wikipedia noch nicht verstanden hat. Wikis sind in Deutschland noch sehr neu und wenig bekannt.
c) verhindern, dass Ideologen jeder Couleur die Wikipedia als Plattform missbrauchen?
editVor allem am Anfang der Entstehung eines Artikels ist für manche die Versuchung groß, Öffentlichkeitsarbeit oder Demagogie zu betreiben und Ideologien jeder Art zu verbreiten. Doch bisher haben sie meist relativ schnell den Platz geräumt, nachdem sie sich mit einer oft sehr ansehnlichen Zahl von Nutzern konfrontiert sahen, die auf die Einhaltung des Grundprinzips vom neutralen Standpunkt (engl. "Neutral Point of View", oft als NPOV abgekürzt) hinwirken. Demagogen ziehen meist eine Plattform vor, die ihnen nicht so viel Widerstand bietet und bei der ihr Beitrag nicht binnen kurzem wieder verschwunden ist.
Natürlich ziehen manche Themen besonders viele Ideologen an. Betroffene Artikel werden beispielsweise unter Beobachtungskandidaten vermerkt und beobachtet. Wenn ein Artikel von einer Person bearbeitet wird, die sich nicht an die Neutralitätsregeln der Wikipedia hält, erzeugt dies in der Regel nach einer Weile Aufmerksamkeit, und ab und zu führt erst die intensive Debatte um einen Artikel zu einem Text, der weit höheren Ansprüchen genügt als vor der Änderung. Ideologen bewirken daher oft genau das Gegenteil von dem, was sie ursprünglich wollten. Dieser Prozess ist mühsam, aber notwendig.
Es sollte aber auch nicht verschwiegen werden, dass es durchaus Probleme in einigen Bereichen gibt. Schwierigkeiten machen unter anderem die Versuche von Pädophilen, einschlägige Artikel rund um die Themen Sexualität und Missbrauch für ihre Selbstdarstellung zu nutzen. Bisher gelang es für unsere hohen Ansprüche in einigen Fällen nur unzureichend, diesen Aktionen entgegen zu steuern. Gelegentlich wurde es erforderlich, die heiß umkämpften Seiten für einige Zeit zu sperren. Je mehr Interessierte und Engagierte sich aber für das Projekt einsetzen und sich für die Richtigstellung von Inhalten verantwortlich fühlen, desto weniger gelingt es bestimmten Gruppen, ihre Interessen durchzusetzen.
d) Oder muss man hinnehmen, dass auch Falsches und Ideologisches auftaucht?
editMan muss wie an allen Stellen, zu denen der Zugang nicht eingeschränkt ist, hinnehmen, dass zeitweilig falsche oder ideologisch gefärbte Aussagen auftauchen. Aber es wäre schön, wenn an anderen Orten auch so schnell versucht würde, das Falsche zu verbessern und das ideologisch Gefärbte zu neutralisieren, wie dies in der Wikipedia der Fall ist.
Der Umgang mit "unsicherem" Wissen ist eine Schlüsselkompetenz, die eigentlich schon in der Schule erlernt werden sollte. Auch Inhalte von anderen Quellen, sowohl Lehrbüchern, als auch etablierten Nachschlagewerken, können einseitig bis fehlerhaft sein, und in den Medien werden wissenschaftliche Kontroversen häufig nicht abgebildet, sondern transformiert wiedergegeben. Betrachtet man verschiedene Typen der Wissensvermittlung in verschiedenen Medien, so erhält man ein Kontinuum. Wikipedia kann als das eine Extrem gesehen werden, wo nach dem Wikiprinzip alle schreiben dürfen, die Autoren anonym sind und das Wissen deshalb als sehr unsicher gilt. Das andere Extrem stellt die mehrfach begutachtete wissenschaftliche Publikation dar: Hier dürfen nur wenige schreiben, die Autoren sind bekannt, und das Wissen gilt als ziemlich sicher. Da der Weg, auf dem die Inhalte in Wikipedia zustande kommen, vollkommen transparent ist, eignet sich die Enzyklopädie trotzdem als Informationsquelle. Der Leser wird gewissermaßen ständig zur kritische Reflexion des Gelesenen angeregt.
Hinnehmen muss niemand etwas, denn im Gegensatz zu vielen anderen Enzyklopädien oder Lexika kann der Leser in den Editionsprozess und in die Diskussion eingreifen oder sich auch nur über die Editionsgeschichte informieren. Dabei ist es möglich, an sehr viele Informationen über die registrierten Autoren heranzukommen und sie sogar zu kontaktieren. So ist es den Lesern hoffentlich bewusster, dass wie in allen Lexika auch in diesem keine unanfechtbare Wahrheit zu finden ist, sondern dass immer das beschränkte Wissen und die persönlichen Stärken und Schwächen der Autoren eine Rolle spielen. Die Wikipedia versucht bewusst dem Leser nicht den Eindruck zu vermitteln, dies oder jenes sei die einzige oder ganze Wahrheit. Die zahlreichen Hinweise und Links bieten sich für die eigene Meinungsbildung geradezu an.
Eine erste wissenschaftliche Untersuchung zum Thema der Kooperation und der Konflikte zwischen Autoren der Wikipedia findet sich unter http://web.media.mit.edu/~fviegas/papers/history_flow.pdf .
Administratoren sollen den freien Produktionsprozess moderieren.
editNicht nur die Administratoren sollen in der Wikipedia moderieren. Jeder Wikipedia-Besucher kann Benutzer und zugleich Redakteur, Lektor, Korrektor, Moderator, Kritiker oder Applausspender sein. Die Administratoren haben nur wenige Zusatzinstrumente in der Hand, wie das Löschen oder Sperren von ganzen Seiten, doch auch sie werden dabei sehr kritisch beäugt, und auch ihr Tun ist nicht irreversibel.
Wie behält man aber eine stetig wachsende Zahl an Artikeln mit vermutlich mindestens ebenso stetig wachsenden Veränderungen im Blick?
editDas ist in der Tat recht schwer, es gelingt nur durch die Vielzahl der Mitarbeiter. Und ein bisschen Erfahrung oder "Siebten Sinn" bekommt man vielleicht doch mit der Zeit.
Die Zahl der Artikel und mit ihr die der Änderungen wächst zum Glück nicht schneller als die der regelmäßigen Autoren, so dass jeder nur einen gleich großen Anteil begutachten muss.
Monat | Artikel | Benutzer | akt. Ben. | Art. pro akt. Ben. Jan 03 12 000 290 156 76 Jun 03 22 000 615 232 94 Jan 04 48 000 1619 544 88 Jun 04 109 000 4401 1819 59
In den letzten drei Jahren gab es zwei Hauptarten von Wachstum: Kontinuierliches Wachstum durch Mund-zu-Mund-Propaganda und die Wellen von Aufmerksamkeit, etwa im März 2004 beim Erreichen des 50.000. Artikels. Letztere stellten die Wikipedianer auf eine harte Belastungsprobe, als innerhalb kürzester Zeit Wikipedia dreimal schneller wuchs als noch Tage zuvor. Viele der Menschen, die damals zum ersten Mal über Wikipedia lasen, sind heute aktive Wikipedianer und helfen mit, die anfallende Arbeit zu bewältigen.
Wie kann man renitente User vom Missbrauch ausschließen oder gar Artikel sperren (aber widerspricht das nicht der eigentlichen Idee einer herrschaftsfreien Enzyklopädie)?
editEs ist möglich, die Editierbarkeit eines Artikels für einen bestimmten Zeitraum einzuschränken. Einige Artikel (etwa die Lizenz, unter der die Wikipedia steht) bleiben dauerhaft gesperrt. Da alle Änderungen rückgängig gemacht werden können, besteht kein großer Zwang für den voreiligen Einsatz einer Sperrung. Zuvor wird in einem bestimmten Zeitraum immer versucht, der jeweiligen Person ausreichend Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben und über ihre Einwände und Motive zu sprechen. Nicht jede Änderung zum Schlechten geschieht aus bösen Motiven, und es soll sogar schon vorgekommen sein, dass Journalisten in einen Artikel ein "HALLO WELT" gesetzt haben, nur um zu sehen, wie lange es dauert, bis diese Änderung ausgebügelt wird. Die meisten Fälle können so ohne großen Ärger gelöst werden, und erst dann wäre bei einem Misserfolg die Option anzuraten, etwa einen Artikel kurzzeitig zu sperren oder, wenn eine Person über mehrere Artikel verteilt auffällig wird, die Editierrechte dieser Person kurzzeitig aufzuheben. Diese Maßnahmen werden protokolliert und sind für jeden einsehbar. Jeder Nutzer ist angehalten, diese Maßnahmen der Administratoren kritisch zu sehen und gegebenenfalls auch Widerspruch gegen eine Eskalation einzulegen.
In solch einem Fall widerspricht eine Sperrung den Grundprinzipien nicht. Es geht aber nicht darum, Benutzer dauerhaft auszusperren, sondern eher darum, renitente Benutzer zu demotivieren, indem man ihnen auf die Dauer die Aussichtslosigkeit ihres Tuns vorführt. Wie die Demagogen, suchen sich die Renitenten dann oft einen anderen Platz, an dem ihnen weniger Widerstand begegnet.
Wikipedia ist keine "herrschaftsfreie" Plattform, sondern vereint Regelungen verschiedener Herrschaftssysteme. Für die Sperrung von [[:de:Wikipedia:L%F6schkandidaten|Artikeln]] und einzelnen Benutzern haben sich Konventionen herausgebildet, wie die Gemeinschaft vorgeht.
Müsste man nicht, um Qualität schaffen und gewährleisten zu können, vom Prinzip des freien Redaktionsprozesses abweichen: hin zu mehr Kontrolle, und beispielsweise Artikel für den freien Zugriff sperren? Und sich von der Idee der produktiven, geregelten Anarchie verabschieden?
editWikipedia hat sich aus Nupedia entwickelt, bei der es einen geregelten Reviewprozess gab. In bewusster Abkehr von diesem Prinzip setzt Wikipedia auf ein Entwicklungsmodell mit größeren Freiheiten. Dieser Wandel hatte vor allem den Grund, dass Nupedia dem Benutzer keinen Anreiz geboten hat, selbst aktiv zu werden, und deshalb nicht über einige wenige Artikel hinausgekommen ist. Selbstverständlich steht es jedermann frei, es noch einmal (unter Beachtung der GNU-FDL auch mit dem derzeitigen Bestand von Wikipedia) auf diese Weise zu probieren, doch die Erfahrung hat die Gründer von Wikipedia gelehrt, dass dies mit fundamentalen Problemen verbunden wäre.
Noch ist die Wikipedia vor allem ein Projekt, ein Projekt im Wachstum, und das sollte man nicht zu schnell mit Bandagen behindern. Es kann in ein paar Jahren ein Zustand erreicht werden, wo man feststellt, dass manche Artikel ausgereift, manche Definitionen gut und gelungen sind und man an ihnen nicht so ohne weiteres etwas ändern sollte. Dann kann man sich fragen, wie man weiteren Änderungsvorschlägen begegnet, doch bisher ist die Wikipedia davon noch weit entfernt. Bisher sind die schnelle Reaktion, die Veränderbarkeit, die Entwicklung und das Wachstum neben der Verknüpfung, der Mehrsprachigkeit und der thematischen Verästelung die Hauptstärken der Wikipedia.
Damit korrespondiert nach unserer Ansicht unmittelbar, dass ein großer Teil des bislang angehäuften Wissens seinerseits beständig Gegenstand des fortschreitenden Erkenntnisprozesses der Wissenschaft ist. Wir sind überzeugt, dass eine statische Momentaufnahme des Wissens der Menschheit nicht gelingen kann, sondern nur die beständige Überprüfung der bisherigen Thesen und die rasche Kommunikation neuer Erkenntnisse und Veränderungen dem gegenwärtig erreichten Zustand gerecht wird. Wobei "gerecht werden" freilich wieder nur im Sinn eines angestrebten, aber nie erreichbaren Ziels verstanden werden darf.
Solange die Bedingungen der "GNU Freien Dokumentationslizenz" (GFDL) eingehalten werden, spricht nichts dagegen, einzelne Artikel oder Bereiche aus der Wikipedia zu kopieren und nach einer zusätzlichen Kontrolle in unveränderbarer Form zu veröffentlichen. Dies ist beispielsweise in Ansätzen mit den WikiReadern geschehen. Die Wikipedia selbst wird jedoch immer offen für Änderungen bleiben. Möglicherweise wird ein Bewertungssystem eingeführt werden, mit dem sich die Qualität von Artikeln bestimmen lässt. Ansätze für dieses Bewertungssystem bestehen schon durch die Auszeichnung von Artikeln als "exzellente Artikel".
WikiReader sind Bücher über einzelne Themengebiete der Wikipedia. Bisher existieren die WikiReader "Internet", "Schweden" und "Portugal und EM 2004"; weitere sind im Entstehen. Ein Teil der Verkaufserlöse geht übrigens auch an die Wikipedia-Stiftung, die die Kosten für die Server und des Web-Betriebs trägt.